MITGLIEDER ARTIKEL: Mentale Gesundheit während der Ausgangssperre

MITGLIEDER ARTIKEL: Mentale Gesundheit während der Ausgangssperre

von Recon News

14 August 2020

Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, dass wir alle derzeit mit diesem lästigen Virus, der immer noch da draußen grassiert, schwer geprüft werden. Unsere Städte und Dörfer ähneln Szenen aus einem furchtbar schlechten Zombie-Film - die wenigen Leute da draußen, die mit einer Gesichtsmaske verhüllt sind, scheinen selbst Augenkontakt zu vermeiden.

Das ist selbst für uns ältere Kinkster, die die Zerstörung erlebt haben, die HIV seit den späten 1970er Jahren in unserer Gemeinschaft angerichtet hat, nicht einfach. Tatsächlich birgt das Ganze seinen eigenen Horror: „Werde ich mich mit dem Virus infizieren? Wenn ja, werde ich dann wieder gesund? Wie lange noch bis zum Ende des Lockdowns? Werde ich dann noch meinen Job haben? Wird mein Geld reichen?". Und genau wie in den frühen Tagen von HIV gibt es keinen Impfstoff, sondern stattdessen eine Menge Unsicherheit.

Wir wurden alle zu einem Leben in geschlossenen Räumen gezwungen: entweder allein, mit der Familie, Freunden, Mitbewohnern - aber auf jeden Fall gegen unseren Willen. Und das war, noch bevor wir wahnsinnig wurden!

Ich fühle besonders für die Mitglieder unserer Gemeinschaft, die mit ihren schwulenfeindlichen Familienmitgliedern in ihren Wohnungen festsitzen. Oder diejenigen, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert werden, welche sich auf einem Rekordniveau befindet. Sollte dies auf dich zutreffen, melde dich bitte: [über den untenstehenden Link] - vergiss nie, du bist nicht allein, auch wenn es sich so anfühlen mag.

Natürlich geht es in diesem Artikel nicht darum, die derzeitige miserable Situation, die du bereits gut kennst, zu bestätigen und zu wiederholen, sondern ein paar hilfreiche Hinweise zur Bewältigung zu geben, da wir noch einen weiten Weg vor uns haben:

1.Konzentriere Dich auf die Gegenwart:

Strukturiere deine Tage, pflege einen Tagesablauf rund um Schlaf, Essen und Aktivitäten, und versuche dich daran zu halten. Schreibe in Stichpunkten alles auf, was für den aktuellen Tag zu tun ist. Streiche die Tätigkeiten durch, wenn sie erledigt sind. Genieße das Erfolgserlebnis. Dann verwöhne dich selbst oder deinen Freund/Doggy - guter Junge!

Psychologisch gesehen, vor allem in einer Zeit der Ungewissheit wie jetzt, ist es von großem Vorteil, wenn du deinen Geist auf die Gegenwart fixiert hältst: Menschen, die an Depressionen leiden, formulieren ihre Sätze in der Regel so:

"Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, alles, was ich bisher getan habe, war umsonst, ich könnte es genauso gut sein lassen und einfach alles hinschmeißen..."

Wohingegen die Sprache von Menschen, die unter Ängsten leiden, eher wie folgt klingt:

"Oh mein Gott! Was werde ich bloß tun, wenn x, y oder z passiert?"

Der Depressive leugnet seine Vergangenheit, leugnet all seine bisherigen Lebensleistungen - und in der Folge auch sich selbst.
Der Angstgeplagte lebt hauptsächlich in der nahen Zukunft, grübelt, verzweifelt bald, fühlt sich zu nah am Abgrund.

Die Bösartigkeit von Depression, Angst und Isolation besteht darin, dass man schließlich nicht nur eine größere Distanz zu seinen jetzigen Freunden, der Familie und der Gesellschaft schafft, sondern am Ende auch zur Realität selbst.

Es ist nur das Hier und Jetzt, in dem wir die Kontrolle über unser Leben erlangen können. Und die gute Nachricht ist, dass dies auch praktisch umgesetzt werden kann: Ja, wir alle, unabhängig von unseren Fähigkeiten oder unserem Alter, haben die Macht bzw. die Möglichkeit, unser Leben zum Besseren zu verändern:

Beginne, indem du eine tägliche Zeit festlegst, in der du alleine bist, sitze bequem, schließe deine Augen und konzentriere dich, sagen wir, auf deine Atmung. Dein Geist wird wandern. Das ist in Ordnung. Gratuliere dir selbst, dass du es bemerkt hast, dann richte deine Aufmerksamkeit wieder auf deine Atmung oder sogar auf bestimmte Teile deines Körpers: es gibt ganze Meditationspraktiken, die darauf ausgerichtet sind (Körperscans), die sich um unsere körperlichen Wahrnehmungen drehen. Vielleicht gefällt dir eine Audio-Anleitung, hier sind einige Apps, die ich von ganzem Herzen empfehlen kann:

- headspace
- mindfulcreation
- calm

Also, warum plötzlich Meditation und was hat das mit COVID-19 zu tun?

Eine Schlüsselfertigkeit in der Meditation, die die Menschen erlernen können, ist das buddhistische Prinzip des urteilsfreien Bewusstseins. Hier im Westen würden wir „Gelassenheit" sagen. Durch Meditation erlangen wir die Fähigkeit, positive und negative Erfahrungen zu machen, ohne sie festzuhalten oder zu leugnen, sondern einfach eine ruhige Akzeptanz für das zu haben, was sie sind - im Grunde eine Denkweise, die das Gegenteil einer Drama-Queen ist.

Ein positives Ergebnis des Aufrechterhaltens eines Fokus auf den eigenen Körper ist, dass es für einen immer leichter wird, sich von dem Teil des Gehirns abzuwenden, der aktiv ist, wenn man sich ängstlich fühlt, und sich denen zuzuwenden, die man bei alltäglichen Aktivitäten anspricht.

Praktiziere dies und du wirst neurale Verbindungen in deinem Gehirn schaffen, die es dir ermöglichen, von der Verwendung dieser neuen Fertigkeit (zum Beispiel Französisch zu lernen oder das Entspannen der Arschmuskeln für den Arm des Doms) zu profitieren.

Das Gehirn passt sich an jede neue Erfahrung an: Sei es beim Kochen, beim virtuellen Treffen deiner Freunde, beim Kontrollieren deines Medikamentenvorrats, beim Polieren der Stiefel deines Masters, beim Konzentrieren entweder auf deine Atmung oder auf die Gear, die du anhast (oder in dir hast).

Jetzt weißt du, warum deine Eltern dir immer wieder vorschlugen, Schafe zu zählen, um beim Einschlafen zu helfen, warum viele Religionen Gebetsperlen haben oder wir Schwulen in unseren Bars auf unsere Handys starren - alles Hilfsmittel, um unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu lenken, anstatt von unseren Ängsten verschlungen zu werden.

Der Sinn von all dem: sich auf die Dinge zu konzentrieren, die man verändern kann und sich von denen abzulenken, die man nicht ändern kann: Tatsache ist, dass du nicht viel tun kannst, um einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln, aber du kannst deine Zeit nutzen, um dich zu informieren, um gesund und bei klarem Verstand zu bleiben.

Ganz einfach gesagt, wir sind für unser Leben selbst verantwortlich. Es sind also unsere gegenwärtigen Handlungen, durch die wir alles in Angriff nehmen können, was einer Lösung bedarf, nicht durch unsere ängstlichen Gedanken.

2.Nimm Kontakt auf: zu allen anderen Kinkstern hier, zu deinen Freunden und Verwandten, zu anderen in deiner Nähe

Gerade jetzt, wo wir durch die Plage eines Virus getrennt sind, müssen wir durch die heilenden Eigenschaften unserer gemeinsamen Menschlichkeit zueinander finden. Das ist besonders wichtig in beispiellosen Zeiten wie diesen, wo wir die Isolation, die uns auferlegt wurde, durchbrechen müssen.
Also bitte, benutze Recon nicht nur als einen Fleischbeschau-Katalog. Konzentriere dich auf die Menschen. die Person hinter einem Profil.

Hier gibt es eigentlich nur Vorteile:
Es handelt sich nicht nur um die Notwendigkeit, deine derzeitige Gefahr der sozialen Isolation zu durchbrechen, sondern auch darum, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass du Mr. Right (oder zumindest Mr. Right-now) findest. Wenn du möchtest, dass dich jemand begleitet, beginne damit, einen Zugang zu schaffen. Entweder wird er dir folgen oder er entscheidet sich dafür, es nicht zu tun. Aber eröffne zunächst einmal eine solche Möglichkeit. Deshalb:
- Sei so transparent wie möglich (Beruf/Familie erlaubt), wenn du z.B. ein Bild hast.
- Fragen stellen, Interesse zeigen. Hab keine Angst, deine Neugierde auszudrücken oder deine Verletzbarkeit, beides sind lobenswerte menschliche Eigenschaften
- keine einfache Botschaft senden: Hey, Hi, Heiß! oder Wuff!
- Sei konkret: Was hat deine Aufmerksamkeit erregt? Was ist es, was du Hot/Woof auf seinem Profil gefunden hast? Gib dem Kerl etwas, worauf er antworten kann, vielleicht erwidert er das Kompliment/Interesse, das du ihm gezeigt hast und geht womöglich direkt auf dich zu
- weniger "jetzt mal zurück zu mir!" und mehr "genug von mir, wie geht's dir?"

Denn wir alle wollen - und müssen - selbst gesehen, gehört, anerkannt und bestätigt werden. Es liegt in unserer DNA als Spezies - nein, nicht nur homo homosexualis, sondern auch homo sapiens: wir sind nicht nur voneinander abhängig, sondern wechselseitig voneinander abhängig. Unser Verstand und unser Fortbestand sind untrennbar miteinander verbunden:

"Meine Menschlichkeit ist untrennbar mit deiner verbunden."

Wenn wir niemanden haben, der uns und unsere Gefühle erwidert, werden wir sie buchstäblich verlieren: Beziehungen zu Freunden, zur Familie und sogar zu uns selbst werden aus unserer Realität verschwinden. Es ist nicht überraschend, dass eine der schlimmsten Foltermethoden darin besteht, jemanden in eine Isolationskammer zu stecken.

Also achtet bitte darauf, dass ihr weiterhin eure sozialen Kreise aufbaut und pflegt, ihr werdet bald erkennen, was für eine wichtige Rolle ihr im Leben eines anderen spielt. Vertraut mir, ihr werdet euch weniger ängstlich oder depressiv fühlen, nachdem jemand seine Dankbarkeit darüber ausgedrückt hat, dass ihr euch seine Sorgen angehört habt.

Außerdem sind wir Kinkster standardmäßig ein eher kontaktfreudiger/ schlampiger Haufen, also benutzt die Technologie, die wir haben und seht zu, dass ihr über z.B. den Leather Social in London, die sich regelmäßig online treffen, in Kontakt bleibt

Es geht bei Recon/der Kink-Szene nicht nur darum, unsere Kinks und Vorlieben stolz zu zelebrieren, sondern es beinhaltet auch dein Recht, darüber zu reden, nachzufragen und zu diskutieren. Der daraus resultierende Vorteil: es muss nichts mehr vermutet werden, da dein Kerl über dich und deine perversen Neigungen Bescheid weiß.

Sei dir darüber im Klaren, dass dies auch andersherum funktioniert; du bist so oder so verantwortlich für das, was du tust und womit du dich einverstanden erklärst. Und solltest du ein „Nein danke, Kerl" bekommen, dann ist das auch völlig in Ordnung.

Sei auch dir selbst gegenüber nachsichtig und freundlich: es bricht mir das Herz, wenn ich jemanden aus unserer Gemeinschaft treffe, der sich selbst schlecht macht. Erinnere dich: wir sind bereits in einer gesellschaftlichen Minderheit. Wenn du nicht zu dir und deinen Kinks stehst, wird diese Minderheit noch kleiner werden. Also, geh da raus und knüpfe weiterhin Kontakte und Erfahrungen.

HINWEIS: Wenn du dich derzeit mit Typen verabredest, sieh zu, dass alle Aktionen vorerst online stattfinden.

3.Achte auf Deine Gesundheit:
Trauriger Weise gibt es immer noch viele Raucher in unserer LGBT+ Gemeinschaft. Denk dran, COVID-19 ist eine Atemwegserkrankung, bei der das Virus direkt in die Lungen gelangt, was bedeutet, dass jetzt der beste Zeitpunkt ist, mit dem Rauchen aufzuhören. Wir haben auch immer noch eine beträchtliche Anzahl von Menschen in unserer Mitte, deren Immunsystem bereits durch HIV, Hep C oder Krebs geschwächt ist, alles Krankheiten, die die Betroffenen einem höheren Risiko aussetzen. Auch unsere Mitglieder der BAME-Gemeinschaft sind einem höheren Risiko ausgesetzt, die genauen Gründe dafür werden noch erforscht.

4.Besonders, da wir alle momentan noch anfälliger für Stimmungsschwankungen sind, ist es von entscheidender Bedeutung, sich gesund zu ernähren und die Flüssigkeitszufuhr aufrechtzuerhalten:
Strebe eine konstante Zufuhr von Gemüse, Ballaststoffen, gesunden Fetten und Proteinen an. Übertreibe deine Zuckerzufuhr nicht - du kannst dich am Wochenende austoben. Wenn du dich den Rest der Woche vernünftig ernährst, wird das dazu beitragen, deine Essgewohnheiten, dein Gewicht und deine Stimmung zu stabilisieren. Das Gleiche gilt für den Konsum von Drogen und Alkohol: Bitte fang nicht an, nur aus Langeweile Drogen zu nehmen, sonst eignest du dir nur schlechte Gewohnheiten an, die du dir dann nur schwer wieder abgewöhnen kannst.

Noch ein weiterer Hinweis zur mentalen Gesundheit: wenn möglich, halte dich immer an offizielle Stellen wie https://www.nhs.uk bbc.co.uk oder who.org (respektive RKI) für neue Informationen zu Covid-19. Es macht einfach zu viel Bullshit die Runde - die meisten Artikel sind nur Clickbait.

Beschränke Dich am besten auf eine Stunde Nachrichten am Tag, damit deine Stimmung stabil bleibt.
Und übe dich in Geduld. Denkt daran, so sieht es im Moment aus. Das wird irgendwann zu einem Ende kommen. Bis dahin beschäftige dich, kümmere dich gut um dich selbst und nutze die Tage, egal was kommen mag.

Ich wünsche euch alles Gute für eure Gesundheit, sei es mental oder physisch.
Bleibt geil, bleibt sicher,

Hal

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