MITGLIEDER ARTIKEL: Der Sex und das Ich
von
Recon News
03 Januar 2020
Von nerdboi
Die Kink-Gemeinschaft kann, sowohl online als auch im realen Leben, ein tolles Umfeld sein, um gesunde und starke Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die unsere Perversionen teilen und unsere Augen gegenüber Neuem öffnen. Das kann unsere Position als Individuum stärken, als Personen, die da selbstbewusst und stolz auf die Dinge sind, die einen einzigartig machen. Auf der anderen Seite kann es auch gefährlich sein, wenn man es als Mittel zum Zweck sieht, sich Selbstvertrauen aufzubauen und auf andere angewiesen ist, die einem seine Gefühle und Fetische bestätigen sollen.
Als Sozialarbeiter helfe ich verschiedenen Personen, die mit Depressionen, Ängsten und auch Wutanfällen zu kämpfen haben und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die offene Thematisierung von psychischer Gesundheit langsam auf immer mehr Akzeptanz trifft. Dennoch finde ich, dass in der Kink-Gemeinschaft zu wenig (wenn überhaupt irgendwie) darüber geredet wird. Könnte die Offenbarung seines wahren Ichs gegenüber einer Gemeinschaft, in der die Begriffe „Safe und Sane" sehr häufig genutzt werden, ein Risiko sein dafür, dass wir uns weiter isolieren, wenn die Menschen um einen herum nicht wissen, was es heißt, mit seiner seelischer Gesundheit Probleme zu haben? Seit kurzem habe ich es schwer, Glück bzw. Zufriedenheit in meinem Fetisch-Leben zu finden.
Das schlimmste Gefühl, mit dem ich zu tun hatte, ist das der Zurückweisung und Ablehnung. Eine große Anzahl an Menschen in den letzten zwei bis drei Jahren hat in der letzten Minute Treffen abgesagt oder ist gar ganz von der Bildfläche verschwunden an dem Tag, an dem wir uns treffen wollten. Es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass sowas nun mal passiert von Zeit zu Zeit und dass man ein Verständnis dafür entwickelt, dass jeder auch ein eigenes Privatleben hat. Sachen können unverhofft eintreten und manchmal müssen Leute Treffen verschieben. Wenn das immer und immer wieder passiert, zum einen in meiner eigenen Stadt und zum anderen bei den großen Events, ist es schwierig, diese Ablehnung nicht negativ und persönlich zu nehmen. Es ist schwierig, über diese Entschuldigungen in letzter Minute hinweg zu sehen, all diese Geister und gelöschten Profile als Antwort auf meine Person zu betrachten. Ich habe angefangen, mir selbst einzureden, dass mit mir etwas nicht stimmt und dass es an mir liegt.
Wenn ich einen Fetisch-Ort betrete, fühle ich mich inzwischen immer irgendwie fehl am Platz. Ich sehe die ganzen Kerle in ihrer makellosen, gut ausgesuchten Gear und in meinem Kopf beginnt es zu rumoren, was ich denke, was an meinem Outfit, an meiner Gear nicht stimmt. Ich sehe den geilen Bären in der Ecke stehen und nehme an, dass er nicht an mir interessiert ist. Ich sehe meinen Ex, wie er sich mit Leuten unterhält, die ich noch nie getroffen habe und stelle mir vor, dass er ihnen gerade erzählt, dass sie nicht mit mir in Kontakt treten sollten. Der süße Kerl, mit dem ich bereits auf drei verschiedenen Apps geschrieben und den ich auch schon auf verschiedenen Events persönlich getroffen habe, stellt sich mir gegenüber inzwischen schon zum fünften Mal vor, weil er sich nicht an mich erinnert. Ich hatte Panikattacken und Gefühlsausbrüche in Hotelzimmern und Treppenhäusern, da ich mich so fühlte, als ob ich nicht dazu bzw. hierher gehörte. Als wenn ich nicht kinky genug wäre, um dort zu sein.
Schließlich fühlte ich mich, als ob meine bereits existierenden Beziehungen nachlassen und sich verringern würden. Meine Kink-Freunde schreiben mir nicht mehr so oft, um sich für Sessions mit mir zu treffen, mein Partner und ich haben nicht mehr so viel Sex, wie ursprünglich mal. Ich ertappe mich dabei, wie ich nach einer bestimmten Art von Spiel suche und nicht die Leute treffe von denen ich weiß, dass sie mit mir gerne Spaß hätten, sondern stattdessen anfange, auf Seiten wie Grindr oder Squirt zu suchen, wobei ich mir (zumindest unterbewusst) schon vorher im Klaren darüber bin, dass ich nicht das finden werde, wonach ich suche. Wenn ich mir dann online die vielen Bilder und Videos von tollen Sessions anschaue, ist dieser kleine Anteil an Kink, der in meinem Leben stattfindet, nicht gerade überwältigend im Vergleich. Ich erwische mich dabei, dass ich jeden beneide, der erwähnt, dass er kürzlich eine tolle Session hatte (als ob sie mir das direkt unter die Nase reiben wollten, selbst wenn das nicht ihre Intention ist). Wenn ich mich dann endlich mit Freunden für eine Session treffe, verliere ich mich dann in dem kleinen Teil, der vielleicht schiefgelaufen ist oder in einem Aspekt der Szene, der nicht so war, wie ich es mir vorgestellt hatte und bin letztendlich enttäuscht.
Jedes Mal, wenn ich versuche, Pläne mit neuen Leuten zu schmieden, wenn ich zu Events gehe oder Freunde kontaktiere und darauf bestehe, dass es dieses Mal anders sein wird oder dass ich dann offener an die Sache herangehen werde, wird es dann am Ende doch wieder genau gleich und das ässt mich mit einem besiegten, abgelehnten Gefühl zurück. Mir kommt immer wieder dieselbe Frage in den Sinn: "Was stimmt nicht mit mir?" Der Grund dafür, warum ich mich von jedem so abgewiesen fühle, warum ich mich in der Öffentlichkeit unsicher verhalte und abgekoppelt bin von meinen engen Freunden, ist, weil ich mich nicht um meine mentale Gesundheit kümmere. Ich lebe seit langer Zeit mit Depressionen. Ich bin empfänglich für Negativität und lasse es zu, dass das mein Urteilsvermögen verklärt und die Art verändert, wie ich denke und handle. Das ist mir zwar alles bewusst, allerdings passiert es trotzdem, wenn ich nicht gut genug auf meinen Geist und auf meinen Körper aufpasse oder wenn ich glaube, dass es mir gut genug geht und ich meine Abwehrmechanismen verringere.
Es ist eklatant wichtig zu wissen und sich daran zu erinnern, dass das Bemühen um mentale Gesundheit ein stetiger Kampf ist. Um unsere Ängste, unsere Unsicherheiten, unsere Traurigkeit, unser Trauma zu überwinden, müssen wir ihnen auch gegenübertreten – immer und immer wieder. Bei der Pflege unserer psychischen Gesundheit geht es darum, unsere Fähigkeit, uns mit dem, womit wir uns auseinandersetzen müssen und mit dem, was wir an uns und an anderen nicht ändern können, abzufinden und damit fertigzuwerden, ohne dass uns diese Welle der Ehrlichkeit zerstört, auszubauen. Es geht darum, sich mit Freunden und Familie zu umgeben, die uns akzeptieren und unterstützen in allen Aspekten unserer Identität und bei dem, was wir durchmachen. Es geht darum, Menschen zu treffen, die sich die Zeit nehmen, uns wertzuschätzen und zu bestätigen, wenn wir uns mal schlecht fühlen und uns zurückholen, wenn wir unseren schlechten Angewohnheiten verfallen. Die Fähigkeit, unsere selbstzerstörerischen Verhaltensweisen wiederzuerkennen und dann die Motivation zu finden, etwas daran zu ändern, ist wesentlich, um sich erfolgreich weiterzuentwickeln.
Die Wahrheit ist, dass keine dieser Personen irgendeine Schuld trifft, wenn ich mich so fühle. Es ist keine Kritik an mir, wenn Menschen sich rausreden oder unsere Pläne verwerfen. Ich bin mir sicher, dass diese Leute ebenfalls mit ihren eigenen Ängsten zu kämpfen haben und vielleicht haben sie sich ebenfalls schlechte Angewohnheiten angeeignet, genauso wie ich. Es ist nicht die Schuld vom heißen Bär oder die von meinem Ex, dass ich unsicher bin, wenn ich einen Raum voller Fetisch-Kerle betrete. Es ist meine Pflicht, die beste Methode zu entwickeln, um diese Unsicherheit zu überwinden, bevor ich mich in Situationen begebe, bei denen ich diese dann austesten kann. Vielleicht kann sich der süße Kerl ja nicht mehr an meinen Namen erinnern, da mich mein mangelndes Selbstbewusstsein so leicht übersehbar und zu vergessen macht und vielleicht ändert sich das ja, wenn ich mich daran erinnere, wer ich bin. Meine Beziehungen mit Freunden und mein Sexleben mit meinem Partner sind nicht für immer passeé – sie sind nur pausiert, während ich für mich herausfinde, wie ich mich dazu motivieren kann, positive Entscheidungen zu fällen und das zu kommunizieren, was ich von den beiden Seiten brauche inner- und außerhalb des Spiels.
Neben meinen Gefühlen der Ablehnung durch unzuverlässige Profile, der Unsicherheit bei Events oder der Traurigkeit durch das Fehlen von Sessions, gibt so viel mehr, was man unter dieser Thematik behandeln könnte, weshalb ich Menschen dazu auffordern möchte, mit sich selbst und gegenüber anderen ehrlicher zu sein und dadurch Räume und Gemeinschaften zu schaffen, die sich gegenüber den Mitgliedern, die Probleme mit ihrer mentalen Gesundheit haben, unterstützend und inklusiv verhalten.
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