Das "B"-Wort - Gedanken zum Thema Bruderschaft.

Das "B"-Wort - Gedanken zum Thema Bruderschaft.

von Recon News

09 März 2021

In diesem Beitrag spricht Lynx AKA Mitglied LeathermanLynx über "Bruderschaft" und die manchmal unerwarteten Erfahrungen, die in einer Szene gemacht werden können, die vor allem für ihre radikale Sexualität und Ausdrucksfreiheit bekannt ist.

Wenn du mir etwas Aufmerksamkeit schenkst, würde ich dir gerne ein Bild skizzieren, um den großen Einfluss zu verdeutlichen, den die Bruderschaft auf meine Beziehung zu Kink, Fetisch und Leder hat.
Stell dir folgendes vor:

Chicago, 2019, im späten Frühling und 68 Männer aus der ganzen Welt - ganz zu schweigen von mehreren tausend anderen perversen Menschen - versammeln sich im Congress Plaza Hotel für das International Mr. Leather (IML) Wochenende. Die Lobby ist gerammelt voll, laut, geschäftig, schweißüberströmt und geradezu wie geschaffen für das größte "Familientreffen" des Jahres. Während man in den Hallen und in der Lobby gemeinsam lacht, sich unter die Leute mischt und aufeinandertrifft, kommen 68 Männer zusammen und werden in "The Brotherhood of the Medallion" (Die Bruderschaft des Ordens) eingeführt. Wenn man dabei gewesen ist, versteht man es. Falls du noch nie dabei warst, glaub mir, es ist großartig. Ich werde nicht ins Detail gehen, was genau passiert, aber selbst zwei Jahre später kann ich immer noch darüber sprechen, als wäre es gestern gewesen. Das zeigt, welchen Einfluss es auf mich persönlich hatte.

Wenn wir in Kink- bzw. Fetisch-Kreisen das Wort "Bruderschaft" hören, dann passieren in der Regel sofort zwei Dinge: 1. Ein stolzes Lächeln breitet sich auf dem Gesicht von irgendjemandem aus. Oder aber 2. jemand verdreht STARK seine Augen. Eigentlich ist es doch recht einfach - für einige ist die Idee und die Erfahrung der Bruderschaft selbstverständlich, notwendig, geboten und sehr hilfreich und für andere ist es das nicht. Sie erfüllt für Letztere keinen wirklichen Zweck - oder zumindest nicht den, den man ursprünglich erwartet hat. Für andere wiederum ist es wieder etwas ganz anderes... und ALL das ist absolut in Ordnung. Ich weiß, dass der Begriff selbst... irgendwo ein Klischee ist, aber ob wir es nun Bruderschaft, Familie, Gemeinschaft, Gruppe, Stamm, etc. nennen - die meisten von uns haben ein paar wenige Menschen, oder vielleicht nur mehrere Dutzend, mit denen wir uns tatsächlich, authentisch und herzlich verstehen.

Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass wir uns ohne diese Kultur bzw. Gemeinschaft wahrscheinlich nie getroffen hätten. Nur um das klarzustellen: Es ist nicht mein Wunsch oder meine Intention, irgendeinen Leser dieses Beitrags davon zu überzeugen, dass die Bruderschaft ein Ideal ist, dem man nachstreben sollte oder dass es gar der "einzig richtige Weg" ist, einen Prozess, eine Erfahrung oder eine Verbindung anzugehen. Ich möchte nur einem Thema Raum und Stimme geben, welches nicht so oft behandelt wird. Leute, die mich kennen, wissen, dass mein Einstieg in die Leder-/Kink-/Fetischwelt keineswegs damit zu tun hatte, dass ich schon immer ein perverser Bastard war, der genau weiß, was sein Körper mag und wie er darauf reagiert.

Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht einmal, dass ich zu Beginn meiner Reise den Unterschied zwischen einem Dildo und einem Analplug kannte. Doch eines Abends, als ich in einer Bar saß, bemerkte ich eine Gruppe von Männern, die wie ich aussahen (sie waren auch schwarz), in Lederkluft gehüllt und die nacheinander eine Treppe hinunter gingen. Ich fragte den Barkeeper, wer sie seien und er antwortete, dass das "ONYX" sei und dass sie gemeinsam eine monatlich stattfindende Bar-Nacht besuchen würden, die sie auch veranstalteten. Ich war ziemlich nervös, weil ich zum ersten Mal alleine in einer Lederbar war... aber gleichzeitig war ich auch verdammt neugierig! Wer waren sie? Was machen sie da unten? Worüber lachen sie so laut? Also folgte ich der Menge die Treppe hinunter...und dort, im "The Hole of Jackhammer" in Chicago, traf ich die Männer von ONYX und meine Reise durch die Lederwelt begann.

Sicher, wir alle sind Teil dieser Kultur, da wir unsere verschiedenen Fetische und Kinks mit Gleichgesinnten ausleben dürfen (und auch dazu ermutigt werden dies zu tun). Aber offenbart uns die Tatsache, dass wir Gleichgesinnte SIND, nicht auch gleichzeitig eine noch VIEL größere Chance? Ich denke schon! Wenn wir Sex und Sessions mal für einen Moment vergessen, dann sehen wir ein Kollektiv von älteren Lederkerlen, die sich Geschichten erzählen und die Erinnerungen austauschen, von denen jüngere Kinkster derzeit nur träumen können. In 40 Jahren werden diese jungen Kinkster ihre eigenen Geschichten und Erinnerungen weitergeben können. Und es geht dabei nicht nur um Nostalgie. Wenn wir es wünschen, gibt es Menschen um uns herum und in unserem Leben, zu denen wir gehen können, um Ratschläge zu erhalten, Fähigkeiten zu erlernen, zu diskutieren, ein nettes Abendessen zu genießen... und natürlich zu spielen, sofern wir das möchten. Nicht der Titel "Bruderschaft" hilft uns dabei, sondern das, was wir daraus machen.

Als ich 2019 am IML teilnahm, brach ich mir in der Nacht vor dem Befragungsteil des Wettbewerbs meinen kleinen Zeh. Ein ehemaliger Mr. New Jersey Leather setzte sich zu mir und verband meinen Zeh, ein IML Betreuer lieh mir die Stiefel, die er zu diesem Zeitpunkt trug und ein ONYX Midwest Mitglied borgte mir seinen Gehstock, damit ich den Weg vom Hotel zum Austragungsort des Wettbewerbs zurücklegen konnte. Wieso sollte sich einer dieser Jungs die Zeit nehmen, um mir trotz ihres ohnehin schon vollen IML-Terminkalenders zu helfen? Ich bedankte mich bei einem der Jungs, der mir mit den Stiefeln aushalf und er sagte: "Du bist unser IML-Bruder, das machen wir eben so." Menschen, die auf Bedürfnisse reagieren - ich glaube wirklich, dass das die "Essenz" der Bruderschaft ist; da zu sein, wenn jemand uns braucht.

Wie die meisten Familien sind auch wir mal unterschiedlicher Meinung, wir streiten uns, und manchmal wird es noch ungemütlicher. Manchmal stellen wir fest, dass unser Kreis kleiner wird. In anderen Fällen löst er sich gänzlich auf. Es mag schmerzen, es mag enttäuschend sein, aber es passiert nun mal. Nach einiger Zeit finden wir uns jedoch wieder zusammen, möglicherweise mit ganz anderen Menschen, aus ganz anderen Gründen und unter einer ganz anderen Denkweise. Was ich damit sagen will, ist, dass, egal ob es diese oder jene Gruppe oder jener Club ist - diese wenigen Individuen oder diese eine Person - der Wunsch, es nicht alleine zu machen, ist, meiner Meinung nach, der Wunsch nach einer Form von Bruderschaft und Gemeinschaft auf dieser Reise. Wer von euch hat jemanden, an den er sich wenden kann, wenn er etwas braucht? Ihr habt Menschen in dieser Gemeinschaft, die, egal was passiert, hinter euch stehen. Ihr werdet gesehen, ihr werdet geliebt, ihr werdet geschätzt und am wichtigsten, ihr werdet respektiert. Das ist Brüderlichkeit. Und alles, was dann noch kommt, ist Bonus. Sollte ich jemals gefragt werden, woran ich erkenne, dass Bruderschaft etwas Authentisches ist und nicht nur ein Hirngespinst, würde ich die Geschichte erzählen, wie ich mich im Jahr 2019 beim International Mr. Leather in Chicago, Illinois, in einer ziemlich ausweglosen Situation befand und dort Brüder hatte, die mir dabei halfen, das Beste aus mir herauszuholen.

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